„Wie ein Schuss Heroin“ – 09.04.22 in der SZ, S. 33
Die Gräueltaten der russischen Armee schockieren. Wie konnte es zu dieser Verrohung kommen? Neuropsychologe Thomas Elbert über die Abgründe der menschlichen Seele im Krieg
Interview: Christina Berndt
SZ: Die Welt blickt fassungslos auf Butscha. Sie auch?
Thomas Elbert: Ich habe mit meinem Team schon in so vielen Kriegsgebieten gearbeitet. Ob im Kongo, in Burundi, Sri Lanka, Afghanistan, Kolumbien oder auf dem Balkan – überall zeigt sich: Kriege sind immer grausam und schmutzig. Es wäre naiv zu denken, dass es in Europa anders sein könnte.
Wahrscheinlich konnten sich viele kaum vorstellen, dass ein Volk wie das russische, das als so kulturell hoch entwickelt gilt, mitten in Europa solche Kriegsverbrechen begeht.
Da erinnere ich mich an ein anderes kulturell hoch entwickeltes Volk, das vor 80 Jahren den ganzen Kontinent mit einem furchtbaren Krieg überzogen hat. Krieg bedeutet für alle, die daran teilnehmen, Gewalt und Grenzerfahrung. Hunger, Kälte, Schlafentzug, Lebensgefahr – das macht etwas mit den Menschen. Und leider richtet sich die Gewalt der Soldaten am Ende immer auch gegen die Zivilbevölkerung.
Aber die meisten dieser Männer, die im Krieg Menschen abschlachten, haben vor Kurzem noch ihre Kinder liebkost und ihre Katzen gestreichelt. Sie wissen, was Moral ist. Wieso löst sich dieser zivilisatorische Firnis so schnell auf?
Moral und Erziehung wirken durchaus nach. Wenn man eine Truppe junger Männer an die Front schickt, wird ein großer Teil dem Befehl, Gewalt auszuüben, erst einmal gar nicht gehorchen. Weniger als die Hälfte wird auf den Gegner schießen, selbst wenn ihr eigenes Leben bedroht ist. Das weiß man schon seit dem US-Bürgerkrieg. Dort wurden die Gefallenen auf dem Schlachtfeld untersucht, ein Großteil hatte die damals einschüssigen Gewehre nicht abgefeuert. Dasselbe Problem hatte die US-Armee bei der Invasion in der Normandie.
Das wird den Generälen kaum gefallen haben. Was tun sie, um die Gewaltbereitschaft ihrer Truppe zu erhöhen?
Die Trainingsmethoden haben sich geändert. Soldaten üben nicht mehr mit Schießscheiben, sondern mit Figuren in Menschenform. Das wichtigste Mittel aber ist Propaganda. Man muss den Soldaten erzählen, dass es gar keine Menschen sind, auf die sie schießen. Sondern eben Untermenschen, Ungeziefer, Leute, die die Welt vernichten wollen. Die russische Führung sagt, dass die Ukraine an einem Geschwür aus Nazis erstickt, das man zerschlagen muss. Dadurch fühlen sich die Soldaten moralisch sogar in der Pflicht zu töten.
Und dann macht am Ende jeder mit?
Nicht jeder, aber doch ein Großteil. Einfacher ist es, wenn man nicht mit erwachsenen Soldaten arbeitet, sondern noch jüngere Männer rekrutiert, 16-Jährige oder, wie häufig in Afrika, zwölfjährige Kindersoldaten einsetzt. Wenn im Kongo eine Schulklasse entführt wird und man alle Jungs zu Kindersoldaten macht – sie quält und hungern lässt und dann von ihnen fordert, den ersten Menschen zu erschießen, dann sterben etwa ein Drittel der Jungs in diesem Prozess. Aber die anderen werden zu blutrünstigen Soldaten.
Tut der kollektive Rausch dann noch sein Übriges?
Das ist ein ganz wichtiger Faktor. Wenn alle um mich herum töten und ihre Gewaltfantasien ausleben, dann wird es auch für mich immer wahrscheinlicher, mich zu beteiligen. Bei Massakern sind oft alle dabei. Damals in Ruanda zum Beispiel wurden 1994 an einem Zufluchtsort 20 000 Tutsi von Hutu erschlagen. Um so viele Menschen nur mit Knüppeln und Macheten umzubringen, braucht man viele Leute: Wir haben rekonstruiert, dass so gut wie alle mitgemacht haben müssen.
Sind also alle Menschen zu so etwas fähig, auch Mädchen und Frauen?
Es gibt durchaus Kämpferinnen, mit denen nicht zu spaßen ist. Aber ich sehe schon einen Unterschied zwischen Männern und Frauen. Nehmen Sie mal eine ganz normale Schulklasse von 16-Jährigen. 95 Prozent der jungen Männer spielen Ballerspiele wie „Fortnite“, von den jungen Frauen keine fünf Prozent. Bei den Jungs gibt es eine stärkere intrinsische Faszination für Kampf und Auseinandersetzung.
Es dürfte von den Computerspielen aber doch ein großer Schritt hin zu echten Gewalttaten sein.
Es ist ein Schritt, aber im Krieg kann aus der Faszination für Gewalt eben echte Mordlust werden. Wir haben Mitglieder bewaffneter Gruppen in Kriegsgebieten auf vier Kontinenten gefragt. Sie sagten dann, dass das erste Töten ganz schlimm war. Mir wurde übel, sagten sie, ich konnte nicht mehr schlafen. Aber Befehl ist Befehl, sie haben weitergemacht, und dann fing es an, ihnen Spaß zu machen, sie kamen in einen richtigen Blutrausch hinein.
Haben die dann regelrechte Lust am Töten?
Alle, die wir gefragt haben, berichten uns, wie sie im Moment des Kampfes von dem Gefühl appetitiver Aggression davongetragen werden. Das ist mehr als die reaktive Aggression, die man entwickelt, wenn man sich gegen einen Angreifer wehrt. Es ist eine Aggression, bei der man Appetit auf Gewalt hat, Lust dabei empfindet. Wer diese Aggression verspürt, der vergisst, dass er selbst sterben könnte. Es ist für ihn, als würde er auf der Jagd Beute erlegen, das ist mit positiver Erregung verbunden. Wie ein Schuss Heroin. Man will dann noch einen und noch einen.
Lust auch im sexuellen Sinne?
Das haben wir die Männer in unseren Feldstudien auch gefragt. 80 Prozent sagten, wie kommst du auf so eine verrückte Idee? Aber jeder Fünfte sagte, ja, ich finde es sexuell aufregend, wenn in den Kampf zu ziehe. Jeder Zweite von ihnen hat dabei eine Erektion.
Sie sagen, ohne Propaganda schießt nur jeder Zweite. Was stimmt mit denen nicht, die von Anfang an losballern?
Grundsätzlich haben sie den Befehl bekommen zu schießen. Und sie haben Angst, diesen Befehl zu verweigern, dann werden sie ja selbst erschossen. Man treibt die Leute da also mit einem gewissen Druck hinein. Weshalb jeder Zweite dem Druck sofort nachgibt? Der Grund dafür dürften eigene Gewalterfahrungen sein. In Dänemark wurde mal ausgewertet, wie sich junge Menschen entwickeln, die wegen Gewalterfahrungen im Krankenhaus behandelt werden mussten. Die schlagen dann irgendwann zurück. Fast ein Drittel wird so kriminell, dass sie selbst später in Polizeiakten auftauchen. Wir denken, Gewalt sei nur ein Problem in anderen Kulturen. Dabei sehen wir nur nicht hin.
Psychisch krank sind diese Leute aber nicht?
Wir haben das bei Gefängnisinsassen in verschiedenen Ländern untersucht, da waren erstaunlich wenige Gewalttäter psychisch krank. Hinter der Neigung zur Gewalt liegt in der Regel eine Mischung aus fehlender Hemmschwelle – die wurde eben in der Erziehung nicht aufgebaut –, aus vorgelebter Gewalt und vielleicht noch einer unglücklichen Genkombination.
Nun sprechen wir aber nicht von Kämpfen zwischen Soldaten, in Butscha wurden Zivilisten erniedrigt, gequält und ermordet.
Solche Gewalttaten werden in den seltensten Fällen von jungen Soldaten verübt. Um solche Gewalt in eine Stadt zu tragen, rekrutiert die russische Führung Kämpfer aus dem Tschetschenienkrieg oder solche, die schon in Syrien im Einsatz waren. Bei denen ist die Hemmschwelle schon längst weg. Sie beginnen mit den Gräueltaten. Und dann wird es immer schwieriger für die anderen. Wer nicht mitmacht, wird erschossen. Also macht man mit. So eskaliert dieser Krieg wie jeder andere auch.
Welche Rolle spielt die Erniedrigung, die die Soldaten selbst in ihrer Ausbildung erleben?
Das müssen die Ausbilder sehr gut dosieren. Der Drill darf nicht so weit gehen, dass die Soldaten selbst in die Angst hineinkommen. Man kämpft besser, wenn man sich faszinieren lässt, wenn man von der Gewalt als Mittel überzeugt ist. Generäle wollen Kämpfer, die Lust auf Kampf haben und keine Angst.
Ist diese Lust an der Gewalt am Ende einfach normal?
Lust an der Jagd wohnt den Menschen inne, so wie die Katze hinterm Wollknäuel herrennt. Und ein Stück weit müssen wir es wohl akzeptieren, dass Soldaten von Gewalt fasziniert sind, wenn wir es ihnen zumuten, welche auszuüben. Aber abseits des Krieges kann man diese Lust in friedlicher Form ausleben. Man kann hinter einem Fußball herrennen oder Schach spielen, das ist ja auch ein sehr kriegerisches Spiel.
Vergewaltigungen erscheinen als spezielle Form von Gewalt, mit der man demütigen, Familien zerstören und womöglich gar den Genozid befördern will. Ist so etwas von oben geplant?
Vergewaltigungen gibt es in jedem Krieg. Aber sie werden meist nicht von oben befohlen. Wir haben in unseren Studien Leute, die im Krieg vergewaltigt haben, gefragt, ob ihnen ihr Commander das befohlen hat. Aber es hieß meistens, die Commander hätten es nur toleriert. Vergewaltigungen scheinen bei jungen Männern, die unter Stress stehen, keine Befriedigung in sozialen Beziehungen finden, sexuell depriviert sind und bei denen die Hemmschwellen ohnehin schon niedergerissen sind, eher die Regel zu sein als die Ausnahme.
Wenn die Spirale der Gewalt einmal begonnen hat, kann man sie dann noch bremsen?
Wenn es einmal angefangen hat, ist es schwer zu stoppen. Der Rausch wird immer größer. Und auch auf der Seite der Feinde wächst der Hass. Es gibt dann am Ende keine Zurückhaltung mehr.
Wer im Krieg Gräueltaten verübt, ist offenbar nicht unbedingt krank. Aber wie krank sind diese Männer hinterher?
Gerade die appetitiven Kämpfer sind gut gegen Traumata geschützt. Das liegt daran, dass ihre Kampferlebnisse für sie nicht nur negativ besetzt sind – selbst wenn der Kamerad gestorben ist. Sie empfinden sich als Helden. Das macht sie stark.
Aber manchmal werden sie in der Heimat gar nicht als Helden empfangen …
Das ist den US-Soldaten nach dem Vietnamkrieg passiert. Da kamen sie nach Hause, und plötzlich hat die Zivilgesellschaft gesagt, was habt ihr denn da für Schweinereien gemacht? Dann klappten die Soldaten oft noch im Nachhinein zusammen.
Hat die Ausübung von Gewalt auch dauerhaften Einfluss auf das Gehirn?
Aus Experimenten an Katzen und Affen wissen wir, dass es im Gehirn unterschiedliche Regionen für die Typen von Aggressivität gibt. Wenn man die eine Region im Hypothalamus stimuliert, wird das Tier reaktiv aggressiv, es will sich verteidigen. Es legt die Ohren an, zeigt die Zähne, macht den Buckel. Eine Region gleich daneben macht dagegen appetitiv aggressiv, die Katze wird zum Jäger. Sie stellt die Ohren auf, ist zum Sprung bereit. Wenn man diese neuronalen Netze gemeinsam mit dem Belohnungssystem immer wieder aktiviert, brennt sich das ein im Gehirn. Unser frontaler Cortex, mit dem wir unsere Emotionen regulieren können, hat dann immer mehr Mühe, Aggressionsbereitschaft zu kontrollieren.
Wie lassen sich solche Soldaten nach dem Krieg wieder in eine Gesellschaft integrieren?
Sie müssen einen Rollenwechsel vollziehen. Man muss ihnen die Möglichkeit bieten, sich mit Sport auszutoben. Ihnen muss klar sein, dass sie Erfahrungen gesammelt haben, die sie nur mit wenigen anderen teilen können. Das sind keine Geschichten, mit denen man bei der Oma an der Kaffeetafel punktet. Wir bieten in unseren Rehabilitationsprogrammen jungen Leuten deshalb den Austausch mit anderen ehemaligen Kämpfern an, das funktioniert gut. Aber manchmal auch nicht. Ich erinnere mich an einen Rebellen, der hat im Krankenhaus Blutkonserven gestohlen, um seinen Blutdurst zu stillen.
Ihr US-Kollege Steven Pinker sagt, die Menschheit werde immer friedlicher. Teilen Sie seinen Optimismus?
Die Wahrscheinlichkeit, dass ich als Mann in Mitteleuropa umgebracht werde, ist während meiner Lebenszeit tatsächlich wohl so gering wie kaum je zuvor. Aber für die Zukunft wäre ich da nicht so sicher.
Was macht das mit Ihnen persönlich, wenn Sie sich ständig mit so grässlicher Gewalt beschäftigen?
Das darf man nicht ständig machen. Man muss zwischendrin den Fokus auf das Schöne richten. Wenn ich in Ostafrika bin, mache ich Pausen in der Natur, ich genieße die Warmherzigkeit der Leute dort oder ich erfreue mich daran, wie es Menschen geht, die wir behandelt haben. Die Frau, die vor einem Jahr noch tränenüberströmt von ihren schrecklichen Erlebnissen berichtet hat und nun mit ganz anderer Körperhaltung daherkommt. Nicht gebrochen, sondern selbstbewusst.
Dass nun auch Krieg ganz bei uns in der Nähe ist, gehen Sie damit abgeklärt um?
Als Psychologe bin ich fasziniert davon, wie der Mensch funktioniert, was in ihm steckt. Im Moment bin ich selbst aber durchaus erschüttert – in meiner Annahme, wir seien sicher in Europa. Trotzdem möchte ich die Warnung aussprechen: Militarismus führt uns ins Verderben, wir müssen damit vorsichtig sein. Ich plädiere für Pazifismus, bin selbst Kriegsdienstverweigerer. Das heißt nicht, dass ich sage, man muss alle Armeen abschaffen. Aber Gewalt erzeugt neue Gewalt. Wir sollten uns in dieses Hassgefüge nicht hineinziehen lassen.